6 Februar 2025
Quantenräume zersplittern unter starken Wechselwirkungen
Ein Quantensimulator mit neutralen Atomen bestätigt überraschende Eigenschaften von Thermalisierung in zweidimensionalen Quantensystemen.
In der Quantenwelt verlaufen thermodynamische Prozesse nicht immer wie erwartet. Das hat ein Forschungsteam am Max-Planck-Institut für Quantenoptik (MPQ) an einem Quantensimulator mit neutralen Atomen gezeigt. In ihrem Experiment platzierten die Forschenden 200 Atome in einem optischen Gitter und ordneten sie auf verschiedene Weisen an. Während manche Muster über lange Zeit stabil blieben, lösten sich andere schnell auf – anders als in klassischen Systemen bestimmte der Anfangszustand das thermodynamische Verhalten maßgeblich. Die Studie zeigt, wie starke Wechselwirkungen und Bewegungsbeschränkungen der Atome das Verhalten von Quantensystemen prägen und deren Dynamik tiefgreifend beeinflussen. Die Ergebnisse, die im Fachmagazin Nature erschienen sind, bestätigen theoretische Vorhersagen und eröffnen neue Einblicke in das Relaxationsverhalten von Quantensystemen außerhalb des Gleichgewichts.
Quantensysteme aus vielen Teilchen sind extrem komplex. Ursache dafür ist die exponentiell wachsende Zahl der Konfigurationen, die ein solches System gleichzeitig einnehmen kann. Diese Komplexität treibt einerseits die Rechenleistung von Quantencomputern an. Andererseits sorgt sie dafür, dass Quantensysteme, die anfänglich aus dem Gleichgewicht geraten, meist wieder dorthin zurückfinden – unabhängig vom Anfangszustand. Dieses Phänomen nennt man Thermalisierung. Ein anschauliches Alltagsbeispiel ist ein Eiswürfel, der in einem Getränk schmilzt: Nach einiger Zeit vermischt sich das geschmolzene Wasser vollständig mit der Flüssigkeit. Welche Form das Eis ursprünglich hatte – ob Würfel oder zerkleinert – spielt dabei keine Rolle.
In der Quantenwelt können diese Regeln jedoch außer Kraft gesetzt werden, wie ein neues Experiment in einem Quantensimulator mit neutralen Atomen gezeigt hat. Im Fokus der Studie stand ein stark wechselwirkendes Gas bosonischer Atome, das in sogenannten optischen Gittern– Lichtkristalle, die durch interferierende Laserstrahlen entstehen – eingefangen wurde. Die Forschenden realisierten darin eine Variante des 2D-Bose-Hubbard-Modells, mit dem man thermodynamische Prozesse in der Quanten-Vielteilchentheorie untersuchen kann. Der Durchbruch gelang durch eine leichte Modifikation dieses Modells: Die Atome wurden einem zusätzlichen Potential ausgesetzt, wodurch das System in eine Richtung kippt. Das dadurch erzeugte Energieungleichgewicht zwischen benachbarten Gitterpunkten schränkte die Bewegungsfreiheit der Atome ein und verhinderte ihre Rückkehr ins Gleichgewicht.
Das Team entdeckte, dass das Relaxationsverhalten stark von den Anfangszuständen abhing. In einigen Fällen verharrten die Atome an ihren ursprünglichen Positionen, während sie in anderen Fällen ins Gleichgewicht zurückkehrten. Theoretiker hatten dieses Verhalten bereits vorhergesagt: Je nach Anfangsanordnung der Atome zeigen die Systeme völlig unterschiedliche Thermalisierungseigenschaften. Die Erklärung: Der Hilbertraum, ein abstraktes mathematisches Konstrukt, mit dessen Hilfe jedes Quantensystem beschrieben wird, zersplittert in kleinere Einheiten. Aus diesen Einheiten kann das anfänglich präparierte Quantensystem nicht mehr entkommen– ein Phänomen, das als Hilbertraumfragmentierung (engl. Hilbert Space Fragmentation, HSF) bekannt ist.
Atome im Stau
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Ganz anders verhielt sich das Quantensystem bei einem ursprünglichen “Dimer“-Muster. Dabei besetzen jeweils zwei Atome benachbarte Positionen. Die Atome gaben die ursprüngliche Anordnung innerhalb kürzester Zeit auf und arrangierten sich stattdessen in einem regelmäßigen Muster, was auf den bevorstehenden thermischen Zustand hindeutete. „Hier sehen wir einen Stau, bei dem sich allmählich kleine Lücken öffnen“, erklärt Doktorand Daniel Adler weiter. „Sobald das erste Auto zu fahren beginnt, können sich nach und nach auch die anderen Fahrzeuge bewegen, bis der Verkehr gleichmäßig fließt.“
Die seltsame Welt der Fraktone
Das Team untersuchte zudem auch die Dynamik von Defekten im Schachbrett – also Systeme, bei denen ein einzelnes Atom aus seiner ursprünglichen Position im Gitter verschoben wurde. Diese Defekte zeigten sogenanntes fraktonisches Verhalten. Der Begriff leitet sich von „fractional“ (engl. für „partiell“, „gebrochen“) ab und beschreibt stark eingeschränkte Bewegungsmuster, bei denen Atome nur entlang spezifischer Bahnen agieren können – ähnlich einem Läufer auf einem Schachbrett.
„Unser Experiment ist die erste umfassende Untersuchung der Hilbertraumfragmentierung in zweidimensionalen Systemen und zeigt den tiefgreifenden Einfluss kinetischer Einschränkungen auf die Thermalisierungseigenschaften bestimmter Anfangszustände in quantenmechanischen Vielteilchensystemen“, kommentiert Forschungsgruppenleiter Johannes Zeiher. Die Arbeit eröffnet spannende Möglichkeiten für zukünftige Studien, die die exotische und dynamische Entwicklung von Quantensystemen außerhalb des Gleichgewichts untersuchen. Mögliche weitere Fragestellungen betreffen die genauere quantitative Charakterisierung des Transportverhaltens von Defekten und die präzisere Vermessung der Hilbertraumfragmentierung. Solche Studien könnten neues Licht auf klassisch unerwartetes Verhalten in der mikroskopischen Quantenwelt werfen.
Dieser Artikel wurde ursprünglich auf der
Website des MPQ veröffentlicht.
Publication
Observation of Hilbert space fragmentation and fractonic excitations in 2D
Adler, D., Wei, D., Will, M., Srakaew, K., Agrawal, S., Weckesser, P., Moessner, R.,
Pollmann, F.,
Bloch, I. &
Zeiher, J.
Nature 636, 80– 85 (2024)
DOI:
10.1038/s41586-024-08188-0